Caste von Isabel Wilkerson (2020): Dies Buch muss auf jede Leseliste!
tl;dr: Eine absolute Empfehlung. Wilkersons Deutung des vermeintlichen Melting Pots USA als Kastensystem eröffnet viele neue Perspektiven auf Nazideutschland, auf Trump, auf das US-Gesundheitssystem und natürlich auch Indien. 390 Seiten Wucht. Caste ist für mich der Auslöser, endlich dieses Logbuch zu starten im Februar 2021. Dies ist der erste Eintrag.
Isabel Wilkerson Jahrgang 1961, Journalistin, vergleicht die USA, Indien und Nazi-Deutschland und sieht in allen gemeinsame Züge eines Kasten-Systems. Das ist eine Idee, die nicht sie selbst entwickelt hat, aber gut lesbarer Form einem breiten Publikum verständlich darstellt und damit sofort eine breite Aufnahme findet: Ihr Buch ist ab November 2021 lange auf den US-Bestsellerlisten, wird von Oprah Winfrey extrem gelobt und war auch Lesestoff für Barack Obama, der in dem Buch irgendwie nicht so gut wegkommt finde ich.
Ich bin schon vor dem Erscheinungsdatum am 4. August 2020 auf Caste aufmerksam geworden, vermutlich durch Twitter oder Slate.com – auf jeden Fall lag das Buch schon am 8. August 2020 beim mir im Corona-Arbeitszimmer und blieb dort erst einmal. Die Lektüre des wuchtigen gebundenen Buches wurde zunächst verschoben. Dann kam es auch als Geschenk Anfang 2021 von unseren Freunden Diane Siegel und Greg Wendel aus Boston ein weiteres Mal ins Haus. Die letzte Seite wurde am 22. Februar umgeschlagen – und die Lektüre hat meine Sicht auf die Welt ganz eindeutig erweitert. Lesepflicht für alle, die die USA verstehen wollen, die als privilegierte Menschen die Dynamik von Rassen- und Kastensystemen verstehen möchten und für alle, die neugierig auf viele extrem spannende geschichtliche Details sind (wie ich). Zu finden sind aber auch unzählige fürchterliche, schreckliche, verstörende Geschichten aus der Interaktion der herrschenden mit den unterdrückten Kasten.
Worum geht es? Wilkerson stellt in einer (angesichts des Themas und ihrer Betroffenheit) kühlen, eher wissenschaftlichen Sprache den Begriff des Kastensystems als hilfreichere Deutung des Sozialsystems der USA zur Diskussion (verglichen mit den Deutungen mittels Klasse/Einkommen oder Rasse). Sie vergleicht dazu vielfach und perspektivenreich die Lage der Nachfahren der afrikanischstämmigen Sklaven der USA (zu denen Barack Obama nicht gehört interessanterweise) mit der der Dalits in Indien und den Juden im Nationalsozialismus.
Sie sieht acht Kernelemente des Kastensystems, die sie in allen drei Fällen vorfindet und in je einem Kapitel beschreibt sind. Dieser Teil des Buches heisst “The Origin Of Our Discontent”, das in den meisten Ausgaben auch der Untertitel des Buches ist. Auf meiner Ausgabe steht allerdings: “The Lies That Divide Us”. Hier sind sie die acht Säulen, auf denen die Kastensysteme fußen:
1. Göttlicher Wille oder Naturgesetze als Begründung
2. Vererbbarkeit
3. Endogamie, also die Kontrolle von sexuellen Kontakten und der Ehe
4. Begriffe von Schmutz/Verschmutzung und Reinheit
5. Trennung von Berufen und Tätigkeiten
6. Entmenschlichung der unteren Kasten
7. Unberechenbarer Terror und Gewalt als Kontrollmechanismen
8. Glaube an inhärente Überlegenheit bzw. Unterlegenheit der Kasten
Den deutschen Leser*innen sind für die Nazizeit diese acht Säulen unmittelbar einsichtig, weil jede*r von uns die Beispiele aus dem Geschichtsunterricht, Erzählungen der Großeltern und aus Filmen und Büchern kennt. Das ist alles sehr überzeugend dargestellt.
Der Mittelteil des Buches ab Seite 167 ist aus meiner Sicht weniger zwingend und weniger klar gegliedert, auch wenn jedes Kapitel spannende, meist aber auch bedrückende Einsichten erzeugt. Ich habe beim Lesen nichts übersprungen, wenn das auch sonst selbst bei guten Sachbüchern eine Unart von mir ist. Dieser mittlere Teil zeigt eine Reihe anderer Perspektiven (unvollständige Liste): Warum/wenn sich die dominierende Gruppe bedroht fühlt, das Konzept Sündenbocks (Scapegoat) seit biblischen Zeiten, die Notwendigkeit von Sozialsystemen (bei Tieren und Menschen) Alpha, Beta und Omega-Rollen zu besetzen, der Irrsinn der Rassendefinitionen in den USA (Beispiel: “Caucasian origin” als Versuch der Selbstabrenzung der herrschenden europäisch-stämmigen herrschenden Kaste der USA macht soviel Sinn wie 1933 jemanden als arisch oder nicht-arisch einteilen zu wollen – ich muss kaukasisch erstmal im Lexikon nachschauen als ich das 1993 in Boson in einem Formular eintragen sollte).
Die letzten 90 Seiten vor dem Beginn der Quellen und Anmerkungen beschäftigen sich mit den USA seit der Präsidentschaft von Barack Obama bis zur Endredaktion des Buches (vermutlich Mai 2020): Hier wird es spannend! Obamas Wahl war eine Katastrophe für das Kasten-System, die herrschende Kaste hat ihn auch deutlich abgelehnt. Die Auswahl von Trump als Kandidat gegen Clinton war eigentlich folgerichtig für die herrschenden Kaste, weil er am deutlichsten die Wiederherstellung der acht Säulen von oben versprochen hat – versteckt in der Sprache ein aggressiven Drittklässlers, verdeckt von den vielen charakterlichen Schwächen und der mangelnden Intelligenz für das höchste Amt im mächtigsten Staat der Welt. Das Jahr 2042, in dem die herrschende Kaste nicht mehr die Mehrheit im Land sein wird, ist für viele Amerikanar aus der herrschenden Kaste ein Riesenproblem, über das wir in Deutschland wenig sprechen – und dass auch die USA von Südafrika, vom Deutschland im 20. Jahrhundert und von Indien unterscheidet. In Deutschland wurde „unser” Kastensystem ja nicht durch eine gleichberechtige Gesellschaft abgelöst, sondern in beiden Teilen Nachkriegdeutschland war bis auf winzige Gemeinden nur noch die herrschende Kaste übrig, bis nach und nach Zuwanderung begann in den 60er und 70er Jahren. In Indien besteht das Kastensystem fort, die herrschende Kaste war dort schon immer Minderheit. Damit lässt sich aus den treffenden gemeinsamen Deutungen von Wilkerson leider sofort Gemeinsames für die Zukunft der drei Länder ableiten. Das versucht sie auch nicht.
Neben dem großen Spannungsbogen von Erklärungsmustern zu wichtigen Fragen unserer Zeit wartet das Buch für mich mit einer Fülle von neuen Nebenaspekten, Geschichten und Einsichten auf. Hier einige, die faszinierend finde:
- Sie schildert minutiös, wie die englischen Siedler der späteren USA vom ersten Eintreffen afrikanischer Sklaven an das Kasten-System bewusst aufgebaut haben, auch welche ökonomischen Aspekte, besonders in der Landwirtschaft, dabei mitwirkten. So nie gehört vorher.
- Den Nürnberger Rassengesetzen von 1935 gingen jahrelange, gezielte Forschungen von Juristen und Verwaltungsexperten voraus, die sich fragten, wie man wohl die “erfolgreichen” Rezepte der Jim-Crow-Ära (also der für die unterdrückte Kaste weiter sehr schlimme Zeit nach dem Bürgerkrieg und vor der Bürgerrechtsbewegung der 60er Jahre, in den 20ern in voller “Blüte”) in einem Land umsetzen kann, in dem es keine Rassen/Kasten-Gesetze und -Regeln gab (Basis war allerdings eine kurze, brutale Kolonial-Geschichte (Herero-Aufstand in Namibia)) Die Experten der Nazis befanden nun das System der USA als zu extrem und entschieden sich mit den Nürnberger Gesetzen für “Rassismus light” (meine Wortschöpfung). Das Wort Untermensch stammt aus einem 1922 Neu England erschienenen Buch und die Rassenkampfschriften sog. “White Supremacists” (z. B. Madison Grant) standen bei Hitler in der Bibliothek. Ich bin immer noch erstaunt, dass ich davon nichts gehört hatte bisher.
- Wilkerson berichtet von vielen Querkontakten zwischen schwarzen US-Forschern und Aktivisten und Menschen in Indien, im gesamten Verlauf des 20. Jahrhunderts.
- In den 30er Jahren, sozusagen als Verlauf der Bürgerrechtsbewegung, gab es aus den Unis des US-Nordostens mehrere Forschungsprojekte zum Alltag des Kastensystems im Süden. Dabei schlichen sich ein schwarzes Forscher-Ehepaar unter die schwarze Bevölkerung und ein weißes unter die weiße und dokumentierten alles, was sie erlebten. Spannend: Sie konnten sich natürlich nicht treffen, Leiter einer der lokalen Gruppen war ein schwarzer Wissenschaftler, dessen Mitarbeiter Weiße waren, Allison Davis, der auch der erste “tenured professor” einer führenden, bis dato weißen Uni wurde im Jahr 1942. In seinen Forschungen als Anthropologe wird auch das Wort Kastensystem für die Gesellschaft des Südens der USA benutzt.
- Wilkerson begründet die Rückständigkeit der heutigen US-Sozialsysteme (Gesundheit, Arbeitslosenversicherung, Altersvorsorge, Zugang zu Bildung) direkt und kausal mit dem Kastensystem: Eine Gesellschaft, die 15% ihre Mitglieder nicht voll partizipieren lassen will (und weiteren 30-40% (den Latinos und Asiaten) mit Skepsis gegenüber tritt) wird es schlichtweg nicht ertragen können, diese Systeme zu modernisieren – „dann kriegen die unten ja etwas ab!”. Dafür leiden aber auch arme Menschen aller Kasten an den Folgen (extrem hohe Kosten für Gesundheit und Bildung im Vergleich der OECD-Länder, extreme Risiken für Armut im Alter und bei Verlust des Jobs, geringere Lebenserwartung etc.). Eine sehr spannende Idee – ich hatte bisher die US-Institutionen immer rein für eine Wahl der Gesellschaft für mehr Individualismus im Vergleich zu Schweden oder Deutschland gehalten. Was wird der neue Präsident Biden nun mit dem Land machen?
- Wilkersons Theorien lassen auch sehr leicht erkennen, warum Trumps Wählerschaft viel motivierter, viel aggressiver war als die breite, lockere Koalition hinter seiner Gegnerin Clinton – Gedanken dieser Art schossen mir beim Lesen oft durch den Kopf.
Was fehlt, was bleibt offen? Wilkerson argumentiert wie eine Soziologin oder Anthropologin, aber nicht als Aktivistin, von daher finden sich wenige Hinweise zu Vorschlägen, was nun zu tun ist, wie das System überwunden werden könnte usw. Im Gegenteil, es gibt sogar einzelne Passagen, wo sie so rein beschreibend ist, dass auch Rassenideologen ihr nickend zustimmen könnten. Ihre Sicht auf Deutschland hört 1945 auf, obwohl sie für das Buch mehrfach in Deutschland war – was wir mit unseren Problemen tun sollten, werden wir nicht direkt aus diesem Buch erfahren. Mehr Nazis in Ostdeutschland wegen mangelnder Aufarbeitung des Nazizeit? Vermutlich. Diskussionen um Leitkultur und Multi-Kulti als verdeckte Diskussion um Rassenreinheit? Vermutlich. Der Vehemenz der AfD und anderer Rechter bei uns im Gegensatz zur peinliche berührten Masse der Vernünftigen? Ja, vermutlich wie der Vergleich zwischen Trump- und Clinton-Wähler*innen. Parallelen zur Blindheit der Polizei in der Verfolgung der NSU zur Ungleichbehandlung von Schwarzen in den USA? Vermutlich auch dies ist richtig.
Es ist eine lange Rezension geworden. Sie kann die Lektüre des Buches nicht ersetzen. Also, kaufen, leihen oder runterladen aufs Lesegerät!